Europäische Freiheitswochen – ein Gespräch
Andrea Despot: Herr Jaskułowski, Sie sind als Historiker und Politologe mit Ihrem Heimatland Polen natürlich bestens vertraut. Was war 1989 in Polen los?
Tytus Jaskułowski: Ich würde ein Element hervorheben, zu dem man weniger Verbindungen hat als zu den politischen Ereignissen, das aber später die wirtschaftliche Entwicklung maßgeblich beeinflusst hat. Erst einmal steht das Jahr 1989, für das Ende einer informellen Vereinbarung für Osteuropa: der Tauschbeziehung zwischen den Regierenden und der Gesellschaft. Die kommunistischen Machtinhaber beanspruchten ein Machtmonopol und als informelle Gegenleistung bestand eine Verpflichtung vonseiten der Bürgerinnen und Bürger. So konnten sie sicherstellen, dass sie, mehr oder weniger vollständig, sozial abgesichert waren.
Seit 1989 ist das nicht mehr der Fall. Konkreten Elemente der Marktwirtschaft wurden eingeführt: die Öffnung der ersten Kapitalbörse sowie die Einführung der Mehrwertsteuer, der Einkommensteuer und von ganz konkreten rechtlichen Elementen. Das war natürlich wichtig. Aber seit 1989 ist klar, vielleicht nicht so genau wie man es sich hätte vorstellen können, dass jetzt die Gesellschaft oder der Bürger alleine Verantwortung übernehmen muss.
Andrea Despot: Einige Stimmen behaupten, dass diese Fürsorge und Versorgung in der DDR abgebildet wurden. Wenn ich nachfragen darf, an welchem Tag ist, Ihrer Meinung nach, das System in Polen gekippt?
Tytus Jaskułowski: Das war der 24. August 1989, an dem der ehemalige Bürgerrechtler und Solidarność-Berater Mazowiecki Ministerpräsident geworden ist. Das erste Mal seit dem Ende des 2. Weltkrieges war kein Mitglied der kommunistischen Partei Ministerpräsident geworden, das war schon eine Wende. Und zwar deshalb, weil er eine Person war, die verfolgt und interniert wurde und im Westen die oppositionelle Bewegung repräsentierte. Damit verkörperte er auch bestimmte Erwartungen und ebenso Ängste. Nicht alle wissen das, aber Ministerpräsident Mazowiecki musste seine Rede in der ersten Parlamentssitzung abbrechen. Er hatte eine Art Schlaganfall und musste relativ schnell behandelt werden. Nach 20 Minuten kam er zurück und meinte: „Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie bitte, aber mein Zustand ist genau derjenige der polnischen Gesellschaft.“
Andrea Despot: Wir halten den Gedanken fest. Sie haben über den Schlussakt gesprochen, der in die Geschichtserzählungen eingeflossen ist.
Frau Mahler Walther ist bei uns. Sie war bereits als Jugendliche am runden Tisch politisch beteiligt. Sie sind in Leipzig geboren und aufgewachsen und waren Teil der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung.
Wo sehen Sie in der deutschen, oder genauer gesagt, in der ostdeutschen Geschichte diesen Kipppunkt? Was war der Tag, an dem sich die Angst verflüchtigte und plötzliche dieser System-, und Machtwechsel stattfand?
Kathrin Mahler Walther: Also für uns war das damals der 9. Oktober 1989. Das war der Tag, an dem in Leipzig die entscheidende Demonstration stattfand. Es kamen 100.000 Menschen, die teilgenommen haben und alle hatten große Angst vor dem Schießbefehl. Aber die Menschen haben es an diesem Tag geschafft, ihre Angst zu überwinden. In den Betrieben wurde gewarnt, dass es einen Schießbefehl geben würde. Die Stadt füllte sich vom Morgen an mit großen Lastwagen der Bereitschaftspolizei und der Armeesoldaten – es gab also eine hohe Präsenz der Sicherheitskräfte. Da haben wir Flugblätter verteilt, 30.000 Stück, in denen wir die Demonstranten aufgefordert haben, keine Gewalt anzuwenden. Denn wir befürchteten, dass die Staatsmacht zugreifen würde, wenn die Protestierenden vor lauter Wut gewalttätig würden. Und es war ein unglaubliches Wunder an diesem Abend, als diese vielen Menschen über den Leipziger Platz gelaufen sind und tatsächlich nichts passiert ist, also keine Gewalt von keiner Seite aufkam. Die Staatsmacht hatte sich zurückgehalten.
„Aber die Menschen haben es an diesem Tag geschafft, ihre Angst zu überwinden.“
Andrea Despot: Das war erstaunlich, dieses Ausbleiben einer stattlichen und polizeilichen Aktion. Es waren bis zu hunderttausend Menschen auf der Straße, das war eine beeindruckende Machtgeste.
Herr Chráska, Sie waren noch gar nicht geboren, als sich diese Ereignisse auf den Straßen, in den Hauptstädten Europas und in den Parlamenten zugetragen haben. Wo würden Sie sagen ist der „tschechische Moment“? Die friedliche Revolution wird ja im tschechischen Kontext als die „Samtenen Revolution“ bezeichnet.
Filip Chráska: Natürlich, man spricht in Tschechien vor allem von einem Tag, und zwar vom 17. November. Das war der Gedenktag der Studenten an das Jahr 1939, als die Nazis alle Universitäten geschlossen und Studenten in KZs deportiert haben. Und an diesem Tag hatten dann offizielle Studentenorganisationen Demonstrationen im Zentrum Prags organisiert. Das war tatsächlich der Anfang, aber nicht der eigentliche Umbruch. Der kam noch ein paar Tage später mit dem Generalstreik, der die nationale Einheit gezeigt und der Regierung deutlich gemacht hat, dass auch die Arbeiter aus allen Regionen die kommunistische Diktatur nicht mehr unterstützten.
Andrea Despot: Frau Mahler Walther, wofür haben Sie persönlich gekämpft? Wofür sind denn diese vielen Menschen auf die Straßen gegangen? Denn es brauchte offensichtlich einen Moment der Desillusionierung von diesem System, das nicht eingelöst hat, was es versprach.
Kathrin Mahler Walther: Ganz viele unterschiedliche Dinge haben die Menschen auf die Straßen getrieben. Es gab viele Menschen, die die DDR verlassen wollten. Das war auch der Grund, warum die Demonstrationen immer größer wurden. Die Menschen in der DDR hatten das Gefühl, dass es so nicht weiter gehen konnte, mit dem Ausbluten des Landes und dem Verlassen werden von Freunden und allen, die man kannte.
Zu Beginn lauteten die Forderungen auf den Plakaten „Gorbi, Gorbi“ und „Stasi in den Tagebau“. Und es ging vor allem darum, überhaupt einen Dialog und politische Veränderungen in Gang zusetzten. Ich habe mich mit vielen Menschen in der Bürgerrechtsbewegung für Demokratie engagiert. Wir wollten Meinungsfreiheit, Klassenfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Reisefreiheit. Das waren die wichtigen Ziele für uns.
Andrea Despot: Lassen Sie uns zurückwechseln zur polnischen Perspektive: Alles, was gerade angeklungen ist, hat auch Polen betroffen. Aus der Gewerkschaftsbewegung heraus sind enorm wichtige Impulse für Reformen und für die wirtschaftliche Liberalisierung gekommen.
Betrachtet man das Gewerkschafts-, Arbeits- und Erwerbsleben: Was war nicht nur moralisch, sondern auch materiell und wirtschaftlich bankrottgegangen?
Tytus Jaskułowski: Erst einmal muss man darauf hinweisen, dass die wichtigsten Proteste in Polen seit 1945 grundsätzlich mit Gehalts- oder Preiserhöhung zu tun hatten. Wir hatten neben politischen auch finanzielle Forderungen. Und was haben dann die Machtinhaber gemacht? „Schön ihr stellt finanziellen Forderungen? Dann zahlen wir, damit die Leute nicht mehr streiken.“
Andrea Despot: Auf die Entwicklung in Europa bezogen: Was hörte und lernte man von einander?
Tytus Jaskułowski: Zum Beispiel war die Reisepolitik in Polen etwas liberaler als das in der DDR oder in der Tschechoslowakei der Fall war. Das heißt, die Polen durften etwa ohne Visum, nur mit einem Reisepass, nach West Berlin reisen.
Andrea Despot: Das heißt, man konnte im Westen die wirtschaftlichen Unterschiede und auch die Unterschiede den Lebensstandard selbst besichtigen.
Tytus Jaskułowski: Genau. Es gab damals im Staatssozialismus bestimmte Referenzpunkte. Nicht theoretischer Art, sondern Referenzpunkte, die für jede Person und jeden Bewohner des Ostblocks relevant waren. Wenn jemand etwa aus Polen kam und dann plötzlich – was öfter mal der Fall war –die Gelegenheit hatte, nach West Berlin zu fahren, dann kam der Schock. „Gibt es eine Chance, das in einer relativ kurzen Zeit auch bei uns zu erreichen?“ Und das ist eigentlich eine Antwort auf die Frage, warum die wirtschaftliche und liberale Aufarbeitung in Polen relativ friedlich und ohne große Turbulenzen funktioniert hat.
Andrea Despot: Damit kommen wir zum Thema der wirtschaftlichen Transformation und Privatisierung. Lassen Sie uns auch dazu nach Prag oder in die damalige Tschechoslowakei schauen.
Filip Chráska: In der Tschechoslowakei war die Situation ganz anders als in Polen. In Polen war die Opposition, wie bereits gesagt wurde, sehr stark durch die Gewerkschaften und soziale Themen geprägt, während sie in Prag und in der Tschechoslowakei aus der intellektuellen Elite entstanden ist. Die Motoren der Revolution waren Einheit, Demokratie, Pluralität – über die Wirtschaft hat man eher in den späteren Phasen der Revolution gesprochen. Die berühmteste Rede zur sozialistischen Misswirtschaft wurde vom heutigen Präsidenten Miloš Zeman auf der Großdemo vor 30 Jahren gehalten. Heute, 30 Jahre später, gibt es erneut Demonstrationen, die sich nun gegen seine Präsidentschaft richten.
Andrea Despot: Lassen sie uns in die Gegenwart schauen.
Frau Mahler Walther, es ist unbestritten, dass die Zäsur 1989 ein historisches Ereignis war, das viele Erwartungen, Sehnsüchte sowie konkrete politische Forderungen mit sich brachte. Mittlerweile hört bereits die nächste Generation von ihren Eltern, wie das war. Was ist aus diesem Optimismus, aus diesem Aufbruch, geworden?
Kathrin Mahler Walther: Es ist interessant, dass heute viele Menschen sagen, es würde ihnen deutlich besser gehen als vor 30 Jahren. Der Wohlstand und das soziale Dasein haben sich für viele Menschen verbessert. Trotzdem herrscht in einigen Teil der Bevölkerung Ostdeutschlands Unzufriedenheit, weil sich die Menschen nicht gesehen fühlen. Etwa, weil ihre eigenen Geschichten und ihre Lebensleistung vor und nach ‘89 wenig Platz im wiedervereinten Deutschland gefunden haben. Von 1989 an haben sehr viele Menschen im Westen und im Osten geglaubt, dass dieses „auf ein Niveau kommen“, „auf ein gemeinsames Deutschland kommen“ sehr viel schneller passieren würde. Und was ist passiert? Wir haben heute immer noch Gehaltsunterschiede zwischen Ost und West. Ostdeutschland bestand quasi zu 90 Prozent aus großen Betrieben, die heute nicht mehr existieren. Das war eine extreme Umstellung für die Menschen, die jahrelang dort gearbeitet hatten und sich dann einen neuen Beruf suchen mussten. Enorme Anstrengungen und Kooperationsleistungen mussten vollbracht werden und in den letzten Jahren wurde, denke ich, zu wenig darüber gesprochen.
„Trotzdem herrscht in einigen Teil der Bevölkerung in Ostdeutschland Unzufriedenheit, weil sich die Menschen nicht gesehen fühlen.“
Andrea Despot: Sprechen wir über die „Schmerzen“, die sozialen Transformationskosten, die zur Desillusionierung von Wiedervereinigung und Europa beigetragen haben. In Ostdeutschland ist dieses Thema in Bezug auf die Treuhand stark in den Medien präsent. Wenn ich nach Polen sehe, dann wurde dort die „Big Bang Strategie“ verfolgt und die Privatisierung sehr rapide voran gebracht.
Tytus Jaskułowski: Ich kann mich ganz gut daran erinnern. Das war Anfang 1990, direkt nach der Wiedervereinigung. Der damalige deutsche Bundeskanzler hat ganz offen und plakativ ein Versprechen verkündet, in dessen Mittelpunkt die blühenden Landschaften standen. Nach den neuesten Ergebnissen der Forschung wären in Polen im Jahr 1989 mindesten 400 Milliarden notwendig gewesen, um relativ schnell die wirtschaftlichen Bedingungen zu verbessern und alle Rückstände aufzuholen. Daher waren gewisse Versprechen vielleicht aus politischer Sicht nachvollziehbar, aber faktisch kaum einhaltbar.
Andrea Despot: Das ist also ein wesentlicher Grund dafür, dass man während dieser rapiden Transformationsprozesse die Menschen nicht mitgenommen hat?
Tytus Jaskułowski: Ich will damit sagen, dass die Leute nur die interessante, elegante und schöne Seite West-Berlins gesehen haben, oder sehen wollten. Sie konnten keine andere Sichtweise auf die bundesdeutsche Wirtschaft akzeptieren und haben die Tatsache ausgeblendet, dass es Jahrzehnte gedauert hat, bestimmte Erfolge zu erzielen.
Andrea Despot: Ihre Generation Herr Chráska, die nach der Wende geboren wurde, was haben Ihnen Ihre Eltern und Ihre Familie aus dieser Zeit erzählt?
Filip Chráska: Meine Generation, sagen wir die unter 40-Jährigen, die konnte natürlich alle Chancen der offenen Welt ausnutzen und verspürt keine Ost-Nostalgie. Bei der mittleren Generation, also bei Menschen über 50, gibt es Gewinner und Verlierer, je nachdem welchen Weg ihr Leben nach der Wende genommen hat. Aber eine gewisse Nostalgie ist natürlich stärker bei der älteren Generation ausgeprägt. Aber ich als Vertreter der jüngeren Generation kann es der älteren eigentlich nicht übelnehmen, weil viele Menschen nach 40 Jahren Arbeit nur ca. 100 Euro Rente pro Monat bekommen. Das ist natürlich ungenügend und trägt zu dieser Desillusionierung bei.
„Im Grunde war das, was beispielsweise Mečiar in der Slowakei gemacht hat, eine Antwort auf Ängste, auf Enttäuschung und auf die bittere Feststellung, dass es auch eine Schattenseite der vermeintlich blühenden Landschaften gibt.“
Andrea Despot: Sie sagen, Herr Jaskułowski, Ihre Eltern seien eine Generation der doppelt Enttäuschten. Wie meinen Sie das?
Tytus Jaskułowski: Im Jahr 1989 war die Gruppe der 40-Jährigen demographisch gesehen die größte. Diese Gruppe hätte vielleicht mehr Engagement zeigen können. Sie hat zudem gesehen, welche Chancen die Generation ihrer Kinder hatte. Wir durften im Ausland studieren, uns freibewegen und wirtschaftlich Karriere machen. Die Generation meiner Eltern hatte das aus politischen Gründen nicht gekonnt. Die Generation der 40-Jährigen musste auch die Schattenseite der wirtschaftlichen Transformation miterleben und sieht jetzt, wie klein ihre Renten sind. Sie sind enttäuscht, was absolut nachvollziehbar ist. Diese Enttäuschten stellen nämlich eine Zielgruppe für bestimmte politische Parteien dar. Im Grunde war das, was beispielsweise Mečiar in der Slowakei gemacht hat, eine Antwort auf Ängste, auf Enttäuschung und auf die bittere Feststellung, dass es auch eine Schattenseite der vermeintlich blühenden Landschaften gibt.
„Wenn ich heute auf dieses Land schaue, dann bin ich natürlich über manches sehr froh: in einem pluralistischen Rechtsstaat zu leben, in dem man seine Meinung frei äußern kann.“
Andrea Despot: Frau Mahler Walther, Sie haben bereits als Jugendliche in Diskursen und Debatten Ihren Kampf geführt. Dieses Engagement hat sich ausgezahlt, auch auf der systemischen Ebene hat sich sehr viel getan. Es bleibt natürlich noch viel zu tun in der heutigen Welt, in Deutschland und Europa. Was wurde damals angestoßen, das heute zur Entfaltungen kommt? Was ist erkämpft worden, das jetzt noch von hoher Relevanz ist?
Kathrin Mahler Walther: Wenn der Umbruch nicht so schnell gekommen wäre, hätte es im System der DDR keine Zukunft für mich gegeben, weil ich eben schon als Jugendliche politisch sehr aktiv gewesen bin.
Andrea Despot: Inklusive Reiseverbot.
Kathrin Mahler Walther: Genau, ich kam nicht mal mehr nach Prag. Und insofern hat sich eine Nervosität bei mir ausgebreitet. Aber natürlich hat die friedliche Revolution sehr viel erschaffen. Deshalb würde ich auch sagen, dass es wirklich schwer zu verstehen ist, was heute passiert.
Seit dem 9. November ist genau das eingetreten, worüber wir gerade im Kontext von Polen gesprochen haben. Die Menschen haben festgestellt: „Oh, diesen Wohlstand, den wollen wir auch. Unsere einzige Chance ist, uns da anzuschließen.“. Und dieses Denken wurde durch das Versprechen der „blühenden Landschaften“ gefördert. Während der Montagsdemonstrationen hat die CDU damals massiv Aufkleber und Flyer mit dem Slogan „Wir sind Wohlstand“ verteilt. Was ostpolitisch diskutiert wurde, wurde in diesem Moment obsolet und das hat mich in den 90er-Jahren sehr desillusioniert. Es hätte mehr gemeinsam diskutiert und entwickelt werden sollen. Auch wenn ich aus heutiger Sicht sagen würde, dass ich mit dieser Entwicklung zufrieden bin, im Vergleich zu vielen anderen Szenarien, die möglich gewesen wären. Wenn ich heute auf dieses Land schaue, dann bin ich natürlich über manches sehr froh: in einem pluralistischen Rechtsstaat zu leben, in dem man seine Meinung frei äußern kann. Obwohl genau diese Meinungsfreiheit heute durch erstarkende rechte Strömungen gefährdet wird.
Andrea Despot: Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Frau Mahler Walther, haben sich neben persönlichen Freiheitsrechten auch für Umweltthemen eingesetzt. Da klingelt es doch eigentlich, wenn wir sehen, was junge Menschen heute auf die Straßen treibt und politisiert.
Filip Chráska: Natürlich, die Umwelt ist jedem sehr wichtig, weil sie viel mit der eigenen Gesundheit zu tun hat. Es war auch ein großes Thema der friedlichen Revolution 1989 in Tschechien, vor allem in den industriellen Gebieten. Bis heute kann man damit massenhaft mobilisieren, gerade innerhalb der jungen Generation. Ich glaube, dass diese Generation wirklich müde ist von den klassischen politischen Themen. Das Thema Umwelt spricht die jungen Menschen an, treibt sie auf die Straße. Also da ist die soziale Landschaft in Tschechien schon vergleichbar mit der in Westeuropa und die Jugendlichen haben sich sehr europäisiert.
Andrea Despot: Herr Jaskułowski, die polnische Gesellschaft ist auf der einen Seite sehr pro-europäisch. Auf der anderen Seite sehen wir in Polen Kräfte oder Diskurse, die sich wieder von Europa abwenden oder abgrenzen. Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht, aber fragen Sie sich manchmal, ob sich neue Gräben auftun?
Tytus Jaskułowski: Eigentlich war jede politische Auseinandersetzung in Polen eine Auseinandersetzung zwischen den Generationen. Die Generation derer, die zwischen 1940 und 1950 geboren wurde, war größtenteils in den Gewerkschaften organisiert, die sie 1980 mitgegründet hatten. Diese Generation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den Stalinismus nicht miterlebt hat und ihr Leben weniger von Angst geprägt war, als das ihrer Eltern.
Die Situation in Polen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Generation der Älteren gewisse Ängste hat, die von politischen Bewegungen und Parteien instrumentalisiert werden.
Bedauerlicherweise sehe ich eine neue Auseinandersetzung zwischen den Generationen eintreten in Polen, voraussichtlich in 30 Jahren. Warum? Ungefähr im Jahre 2050 wird ein Drittel der polnischen Gesellschaft über 65 Jahre alt sein und in Rente gehen. Die junge Generation muss diese Rentenbeiträge zu erheblichem Teil mitfinanzieren.
Andrea Despot: Herr Chráska, wenn Sie die jungen Menschen in Tschechien hören, was erwarten die? Wie wird diese Zäsur in Tschechien nachwirken?
Filip Chráska: Ich muss leider mit einer Kritik an meiner Generation beginnen, weil sie zumindest in der ehemaligen Tschechoslowakei politisch schwach und ihre Wahlbeteiligung gering ist. Die Wahlbeteiligung von den Älteren liegt hingegen bei über 70 Prozent, was sich auf die Wahlergebnisse auswirkt. Die jungen Menschen engagieren sich eher für bestimmten Themen, als für die Politik an sich. Das können wir, wie schon zuvor gesagt, bei der Umweltbewegung sehen, die bekommt eine massenhafte Unterstützung in Tschechien. Aber eine echte proaktive Beteiligung in politischen Parteien, das finden junge Menschen seltener attraktiv.
„1989 war natürlich eines der größten Mottos der Revolution: „Zurück nach Europa!“. Wir gehören jetzt dorthin zurück.“
Andrea Despot: Gerade für Polen und für Tschechien war Europa lange ein Sehnsuchtsort. Wie fällt da heute die Bilanz aus? 2004 sind beide Länder der Europäischen Union beigetreten, wie hat sich dieser Transformationsverlauf weiterentwickelt?
Filip Chráska: 1989 war natürlich eines der größten Mottos der Revolution: „Zurück nach Europa!“. Wir gehören jetzt dorthin zurück. Nichtsdestotrotz verlief die Europäisierung der Bevölkerung in der Tschechoslowakei, später in Tschechien, viel langsamer und weniger emotional als in anderen Ländern. Also die Unterstützung des Beitritts zur EU innerhalb der Bevölkerung war immer am geringsten unter allen postkommunistischen Ländern. Das hatte ganz viel mit dem Misstrauen gegenüber Westeuropa zu tun, aber auch mit dem negativen Diskurs des ehemaligen Ministerpräsidenten und Präsidenten Václav Klaus über Europa.
Andrea Despot: Meine letzte Frage ist auf den deutschen Kontext bezogen. Wann wird in Deutschland zusammengewachsen sein, was zusammen gehört?
Kathrin Mahler Walther: Angela Merkel hat gesagt, dass es in Deutschland wohl eher 50 Jahre dauern wird. Ich mag es nicht, diese Art von Prognose abzugeben, weil sich für mich ein ambivalentes Bild abzeichnet. Ich erlebe hier in Berlin in Freundeskreise aus Ost- und Westdeutschen und trotzdem bestehen weiter Ungleichheiten, was die Vermögensverteilung betrifft. Das wird sich über mehrere Generationen hinweg ziehen. Aber ich sehe auch viele gute Initiativen, gerade aus der jüngeren Generation, der dritte Generation Ost. Die trägt sehr aktiv und mit lebendiger, starker Stimmen ihre Forderungen nach außen, zum Beispiel den Slogan „Wir sind der Osten“. Das ist für mich ein starker Hoffnungsschimmer.
Andrea Despot: Mit diesem Hoffnungsschimmer beenden wir dieses Gespräch. Ich sage herzlichen Dank dafür, dass Sie mich auf dieser Zeitreise begleitet haben und Ihre Perspektiven aus Warschau, Prag und hier aus Berlin eingebracht haben.
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